Farben der Lieder
Erschöpft drückte sie auf die Wunde an ihrem Bauch, um die Blutung zu stoppen. Mit jedem Atemzug sickerte es aus dem klaffenden Loch. Sie spürte, wie sich die warme, klebrige Masse durch ihre Finger quetschte. Sie rang nach Luft, doch eine imaginäre Kraft legte sich über ihre Kehle. Ein Blick an sich hinunter, ließ sie erstarren.
„Hilfe.“ Ein kläglicher Versuch, auf sich aufmerksam zu machen. Eisige Kälte durchströmte ihren Körper. Im Kampf ums Überleben rief sie noch einmal um Hilfe, doch nicht mehr als ein leises Krächzen verließ ihre Lippen. Sie vernahm Schritte. Erst weit entfernt, dann kamen sie näher. Sie wurden schneller. Ein Schatten, beängstigend groß, tauchte über ihrem Gesicht auf. Er sagte etwas, doch sie hörte nichts, außer dem Rauschen ihres Blutes. Sie schloss die Augen. Wohlige Wärme verdrängte die Kälte und bahnte sich ihren Weg durch den Körper. Alles um sie herum wurde dunkel. Als hätte die Seele ihren Körper verlassen, spürte sie keine Schmerzen mehr.
In Kerstins Bauch tanzten die Schmetterlinge. Je näher sie an das Autobahndreieck auf der A1 fuhren, desto mehr wuchs das Glücksgefühl. Das Schild, das die Richtung Gerolstein/Daun auswies, machte es noch aufregender. Sie freute sich sehr auf zu Hause. Am meisten auf ihren Bruder, der nach dem Tod ihrer Eltern in dem alten Fachwerkhaus wohnen geblieben war.
Drei Jahre war sie dort nicht gewesen. Das letzte Mal bei der Beerdigung ihrer Eltern, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Sie arbeitete früher auf der Polizeiinspektion in Wittlich und war auch immer glücklich gewesen. Als sie vor sechs Jahren auf einer Schulung Dirk kennenlernte, hatte sie sich Hals über Kopf verliebt. Sie zog zu ihm nach Göttingen. Doch blieb mit ihrer Heimat in Manderscheid stets eng verbunden.
Manderscheid lag im Landkreis Bernkastel-Wittlich. Sie liebte den Ort, der jedes Jahr mit seinen Sehenswürdigkeiten viele Touristen einlud. Kerstin erinnerte sich an ihre Kindheit, als ihre Eltern mit ihnen Ausflüge zu den beiden Burgruinen machten. Ihr Vater hatte ihre Geschichte erzählt, die den mittelalterlichen Interessenkonflikt zwischen dem Kurfürstentum Trier und dem Herzogtum Luxemburg widerspiegelte. Noch heute zählte Wandern zu Kerstins Hobbys. Sie freute sich darauf, am Samstag ein Stück auf dem 330 km langen Eifelsteig, der von Aachen nach Trier führte, entlang zu wandern. Die Route hatte sie mit Dirk bereits geplant. Sie wollten die 18 km bis zum Kloster Himmerod wandern, das im Tal der Salm lag. Übernachten würden sie in einem Gasthof, der sich außerhalb des Klosters befand. Kerstin strich sich vor Aufregung über die Oberschenkel. Sie konnte es kaum erwarten, aus dem Auto zu springen, ihrem Bruder um den Hals zu fallen und den Duft der frischen Backwaren einzuatmen, der von der Bäckerei am Markt durch den ganzen Ort strömte. Kindheitserinnerungen.
Dirk setzte den Blinker. Er folgte der Beschilderung auf die Bundesstraße 257. Kerstin schickte ihrem Bruder eine Whatsapp.
Hallo Bruderherz, wir sind jetzt von der Autobahn abgefahren. Ich hoffe der Kaffee ist fertig!
Kerstin war nervös. Sie freute sich, doch auch stimmte sie die Tatsache, dass sie nicht auf ihre Eltern treffen würde, traurig.
„Mein Gott Dirk, fast schon schäme ich mich, dass ich drei Jahre nicht hier gewesen bin“, sagte sie mit einem üblen Gefühl in der Magengrube.
„Du hast nur versucht die schmerzhaften Erinnerungen zu verdrängen. Das sollte für jedermann verständlich sein.“
„Jens hat mich vermisst. Ich fühle mich, als hätte ich ihn im Stich gelassen.“
Dirk legte seine Hand auf ihren Oberschenkel. Eine Geste, die ihr zeigte, dass er sie verstand. „Es war sicher nicht ganz einfach für ihn. Er hätte sich lieber auch etwas Neues gesucht. Aber er ist alt genug, um seine Entscheidungen zu treffen.“
Dagegen hatte Kerstin nichts mehr zu argumentieren. Ihr Bruder war alt genug, er hatte sich fürs Bleiben entschieden. Sie wollte weiter leben.
Als sie in die Friedrichstraße einbogen, in der ihr Elternhaus stand, war die Landstraße am Ende durch mehrere Polizeiwagen blockiert.
„Was ist hier los?“ Kerstin setzte sich aufrecht in den Beifahrersitz.
Dirk parkte das Auto an der Seite auf einem Stück Grün. Sie waren kaum ausgestiegen, da ertönte eine für Kerstin bekannte Stimme. „Du lieber Gott. Kindchen, bist du es wirklich?“
Frau Pauli, die Nachbarin ihrer Eltern kam auf die Straße gerannt. Kerstin mochte sie schon als Kind nicht besonders. Sie hatte diese Art an sich, die Kinder abschreckten. Die ewige Meckerziege, hatten sie alle Kinder des Ortes genannt. Ihre Haare waren auf Lockenwickler gedreht. Sie fuchtelte mit den Armen und wirkte aufgebracht.
„Guten Tag, Frau Pauli.“ Kerstin schmunzelte freundlich, obwohl sie wenig Lust auf Tratsch hatte. Sie war erschöpft, wollte zu ihrem Bruder und konnte zudem das Plattdeutsch nicht leiden.
„Schön, dass du mal wieder in der Heimat bist. Es ist so tragisch, was deinen Eltern passiert ist. Dein Bruder scheint mir sehr einsam zu sein.“
„Jetzt bin ich ja da. Ich sollte schnell zu ihm gehen.“
Frau Pauli verstand den Wink nicht. „Es ist so schrecklich, was hier passiert.“ Sie seufzte, schüttelte den Kopf.
Kerstin wurde hellhörig. Sie beobachtete das Treiben weiter unten auf der Straße. „Was ist denn passiert?“
Um zu erfahren, was in Manderscheid und der Umgebung geschah, war man bei Frau Pauli an der richtigen Adresse. Sie hatte ihre Ohren und Augen überall. Wusste Bescheid, wenn Familie Scholz lautstark stritt oder das Baby von nebenan Blähungen hatte.
„In der Nähe der Felder ist eine Frau angegriffen worden. Wie es scheint eine Touristin. Du könntest deinen ehemaligen Kollegen bestimmt unter die Arme greifen.“
„Das geht nicht, Frau Pauli. Ich bin hier nicht mehr angestellt. Ich darf mich nicht einfach in irgendwelche Ermittlungen einmischen. Außerdem bin ich da, um Urlaub zu machen.“ Kerstin zog Dirk am Arm, um weiterzugehen.
„Aber die Polizei findet den Täter ja nicht. Es ist schon das dritte Opfer. Frag mal deine Freundin, die Sabine.“
Obwohl sich Kerstin fragte, was die Alte mit Sabine meinte, reagierte sie nicht auf die Worte. Sie lief zum Haus ihres Bruders. Einige Nachbarn standen am Fenster, grüßten sie freundlich, waren jedoch zu sehr mit dem Geschehen am Ende der Straße beschäftigt. Auch ihr Bruder stand in seiner ausgefransten Jogginghose an der Eingangstür.
„Herrje, kannst du dir keine neue Hose leisten?“, fragte Kerstin amüsiert.
Jens schmunzelte, schloss seine Schwester in die Arme. Ihren Freund hingegen begrüßte er nur mit einem kurzen Nicken. Er bat die beiden ins Haus.
„Scheint ja richtig was los zu sein in dem Nest.“
Jens zuckte mit den Achseln. Ohne zu fragen, schenkte er seiner Schwester einen Kaffee ein. „Bitte, schwarz wie deine Seele.“ Er reichte ihr die Tasse. „Irgendein Verrückter treibt hier sein Unwesen und sticht Frauen nieder. Eine hat es nicht überlebt. Die andere ist…“ Er stockte.
Kerstin dachte an die Worte von Frau Pauli. „Sabine?“
Ihr Bruder nickte.
„Warum hast du mir davon nichts erzählt?“
„Weil du kein großes Interesse an deiner Heimat zeigst. Sabine wollte es dir anscheinend auch nicht erzählen.“
Kerstin schluckte. Sie kannten sich seit Kindheitstagen, etwas schmerzte sie die Tatsache, dass Sabine sie nicht angerufen hatte. „Aber das stimmt so nicht. Ich habe dort einen Job.“
„Den hattest du hier auch.“ Er bedachte Dirk mit einem finsteren Blick. Den Mann, den er dafür verantwortlich machte, dass seine Schwester Manderscheid verlassen hatte.
„Ich fahre zu ihr. Ich möchte für sie da sein.“
Kerstin atmete tief ein, bevor sie den Klingelknopf betätigte.
Sabine lugte durch eine kleine Glasscheibe, die in der Tür eingebracht war. Nach einer Weile öffnete sie. „Kerstin, was machst du denn hier?“
„Darf ich reinkommen? Ich könnte einen Tee vertragen.“
Teetrinken war immer das erste, was die Freundinnen taten, wenn sie sich trafen.
Kerstin erschrak bei dem Anblick ihrer Freundin. Unter den Augen zeichneten sich dunkle Ränder, ihr Gesicht wirkte fahl und im Allgemeinen sah Sabine aus, als äße sie nichts mehr. Kerstin erkannte an den rot geschwollenen Augen, dass sie oft weinte. Sie nahm sie in die Arme.
„Es tut mir so leid, was dir passiert ist.“
Sabine reagierte nicht. Ließ sich reglos in den Armen halten. Nach einigen Minuten löste sie sich aus der Umarmung. Fast schon maschinell schaltete sie den Wasserkocher an, goss heißes Wasser über die Teebeutel, die in den Lieblingstassen der beiden hingen. Sie umklammerte die warme Tasse.
„Er hat das nächste Opfer, nicht wahr?“
Kerstin schaute auf den Boden. „Jens sagt, ja. Ich habe heute zum ersten Mal davon gehört.“
„Ich wollte dich nicht aufregen. Ist ja noch mal gut gegangen.“ Sie sprach, als hätte sie es auswendig gelernt, schon unzählige Male aufgesagt.
„Seit wann geht das so?“
„Es fing vor ein paar Wochen an. Das erste Opfer war Frau Feist, aus dem Höhenweg. Am helllichten Tag hat er sie am Hotel am Ceresplatz niedergestochen. Sie ist tot.“
Kerstin nickte betroffen. „Die Polizei hat keine Spur?“
„Offensichtlich nicht.“ Sabines Worte klangen scharf. „Entschuldige bitte, mir ist nicht zum Reden zumute. Vielleicht kommst du ein anderes Mal wieder.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Kerstin erhob sich, schloss sie noch einmal in die Arme.
„Ich habe überlebt. Aber seine Worte, sein erbärmliches Singen, das werde ich nie mehr aus dem Kopf bekommen. Er hat meinen roten Mantel genommen, an ihm gerochen, als wäre es eine wildgewordene Bestie, die von dem Geruch des Blutes angelockt wurde. Dann hat er „The lady in red“ gesungen. Es war schrecklich.“ Sabine hatte einfach drauf los gesprochen und Kerstin hatte Mühe ihr zu folgen, weil ihr Schluchzen so heftig gewesen war. Sabine schob ihre Freundin zur Tür.
Kerstin überkam eine Unruhe, die sich immer weiter ausbreitete. Dieses Kribbeln kannte sie, wenn sie an einem Fall arbeitete.
Das hier geht dich nichts an!
Sie entschied trotzdem nach Wittlich zu fahren, um ihren ehemaligen Kollegen einen Besuch abzustatten. Vielleicht konnte sie so ja doch das ein oder andere Detail erfahren. Schließlich ging es um ihre Freundin.
Ihr damaliger Partner Stefan freute sich, als sie zur Tür hereinkam. Nachdem sie ein paar Minuten geredet hatten, vertröstete er sie jedoch. „Wir haben viel zu tun. Du hast sicher davon gehört. Vielleicht können wir uns die Tage mal am Abend auf ein Bier treffen.“
Kerstin nickte. „Ich war gerade bei Sabine. Habt ihr keinerlei Hinweise?“
Stefan schüttelte den Kopf. „Frau Feist konnte uns leider nichts mehr sagen. Sabine hat seitdem auch nicht viel gesprochen.“
„Sie bekommt den Song nicht mehr aus dem Kopf.“
Stefan runzelte die Stirn. „Was für einen Song?“
Kerstin berichtete dem Polizisten, was ihre Freundin zuvor erzählt hatte. Der Beamte kniff die Augen zusammen. „Ich meine das Opfer von heute hat etwas von „Fields of gold“ erzählt. Man konnte sie nicht richtig verstehen, sie war schwer verletzt.“ Seine Augen weiteten sich. „Sie trug ein goldenes Oberteil.“
Als Kerstin in ihr Elternhaus zurückkehrte, war es leer. Sie wunderte sich, wo Dirk hingegangen sein könnte, er kannte sich nicht aus in Manderscheid. Sie lief ins Wohnzimmer und betrachtete das Foto ihrer Eltern auf dem Kaminsims. Es versetzte ihr einen Stich. Sie vermisste sie, doch noch viel mehr, konnte Kerstin nicht verkraften, dass sie sich nie von ihnen verabschieden konnte. Ihnen nicht noch mal gesagt hatte, wie sehr sie sie geliebt hatte. Sie verspürte den Drang nach einem Schluck Whiskey. Sie wusste, dass Jens immer einen in der Bar stehen hatte. Als sie die Lade des Schrankes öffnete, fiel ein Stapel CD`s zu Boden. Sie hob die CD`s auf und schaute sie durch. Sting „Fields of gold“, Chris de Burg „The Lady in red“, Uriah Heep „Lady in black“.
Kerstin zuckte zusammen, als hinter hier jemand „Purple Rain“ summte. Sie schaute an sich hinunter, an ihrem violett-farbigen T-Shirt bildeten sich Schweißflecken, als ihr vor Angst das Adrenalin durch den Körper jagte. Ihr Atem stockte, als sie die kalte Klinge eines Messers an ihrem Hals spürte.
„Du hättest hier nicht rumschnüffeln dürfen, Schwesterlein.“
„Du? Bitte sag, dass das nicht wahr ist? Warum hast du das getan?“
„Spielt das eine Rolle? Ich hasse euch Weiber. Ihr verlogenen Tussis. Ich werde euch alle auslöschen.“
„Jens, hör auf damit!“ Kerstin spürte, wie sich die Zähne des Messers in ihr Fleisch bohrten. „Was haben die Frauen dir getan?“
Sie bekam keine Antwort. Das Messer schnitt in den Hals, als Jens zu Boden fiel. Entsetzt hielt sie sich die Wunde, das Blut verteilte sich in ihren Händen. Dann schaute sie in die weit aufgerissenen Augen ihres Freundes, der die Porzellanfigur mit zitternden Händen noch immer nach oben hielt.
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