Kapitel 1
03. Mai 1994
Langsam lief sie auf den hellen Schein zu. Ob etwas oder jemand dahinter auf sie wartete, konnte sie nicht erkennen, weil das Licht blendete. Sie wollte rufen, um auf sich aufmerksam zu machen, doch es drangen keine Laute aus ihrem Mund.
Die Angst kroch ihr aufgrund dieser befremdlichen Situation zwar in die Knochen, doch der helle Schein zog sie magisch an, sodass sie immer weiter auf ihn zusteuerte. Es war, als hätte jemand ein Seil um sie gebunden und zerrte sie in diese Richtung. Das Gefühl, das sie dabei verspürte, war Furcht vor dem Unbekannten, aber auch Faszination für diesen Schein. Sie fühlte sich wohl an dem Ort, obgleich sie keine Ahnung hatte, was sie erwarten würde.
Langsam schritt sie über einen langen Gang, in dem es hell und still war. Ein sanftes Rauschen klang angenehm in ihren Ohren. Es war, als schwebte sie über den Boden.
Nur einmal hatte sie sich umgedreht und überlegt wegzulaufen. Aber genau in dem Moment war dieses friedliche Gefühl erloschen und sie hatte es sofort vermisst. Also hatte sie sich wieder dem Licht zugewandt, das ihren Körper mit Wärme und Geborgenheit durchflutete. Keine Schmerzen, keine Not. Sie war frei. Nichts auf der Welt würde sie zum Zurückgehen bewegen.
Die Panik, die sie gespürt hatte, kurz bevor sie das Licht gesehen hatte, und die ihr eben noch den Atem geraubt hatte, war wie weggeflogen. Auch wenn das Licht bedeuten konnte, dass sie tot war, erfüllte es sie mit Zufriedenheit.
Der Schein wurde heller, je weiter sie sich ihm näherte. Ein Lächeln trat auf ihre Lippen und sie schloss die Augen.
Mit süßlicher Melodie sang jemand ihren Namen.
Kurz rasten Bilder an ihr vorbei. Ihre Mutter, ihr Vater, ihre Lieblingspuppe. Doch nichts von dem war ihr in diesem Moment so wichtig wie der sanfte Schein am Ende des Ganges.
Nur noch wenige Schritte trennten sie von der Freiheit, nach der sie sich so sehnte. In Gedanken zählte sie mit.
Eins.
Ein leises Wimmern irritierte sie kurz, doch hielt sie nicht vom Weitergehen ab.
Zwei.
Jemand rief ihren Namen. Dieses Mal von der anderen Seite. Es war nicht die sanfte Stimme aus dem Licht.
Drei.
Wieder hallte ihr Name über den Flur. Erst weit weg, doch er kam immer näher. Es klang panisch.
Sie bekam Herzklopfen. Wer war das?
Vier.
Sie versuchte schneller zum Licht zu kommen, doch die verzweifelten, kreischenden Rufe nach ihr zerstörten den Frieden.
Fünf. Sieh dich nicht um. Lauf.
Plötzlich kam sie nicht mehr vorwärts. Sosehr sie sich auch bemühte, sie trat auf der Stelle. Streckte ihren Arm aus, in der Hoffnung, jemand würde nach ihm greifen und sie hineinziehen.
Abwechselnd erklangen die Rufe nach ihr: erst lieblich und sanft, dann hektisch und panisch.
Sie presste sich die Hände auf die Ohren.
Alles um sie herum drehte sich und plötzlich wurde es dunkel.
Die Panik kehrte zurück. »Nein, nein, nein. Ich will zum Licht.«
Wie aus dem Nichts packte sie etwas von hinten und zerrte sie weg.
Sie schrie um Hilfe.
Die dunklen Wände, die eben noch hell beschienen gewesen waren, zogen an ihr vorbei. Es war, als risse eine imaginäre Hand sie in einen tiefen Abgrund. Weg von dem Frieden, weg von der Stille. Mit den Armen ruderte sie gegen die mächtige Kraft an, doch es war vergebene Mühe.
Ein Druck auf ihrer Brust löste einen Schmerz aus, der sich anfühlte, als würde er ihre Lungen zerquetschen.
Sie war wieder an dem Ort, an dem sie nie glücklich sein würde.
Kapitel 2
10. Januar 2018
Nick küsste Lisa leidenschaftlich.
Ihr Herz schlug bis zum Hals. Auch wenn es ihr jede Menge Neid einbringen würde, dass sie mit Nick Hauser angebandelt hatte, konnte sie sich ihren Gefühlen für ihn nicht entziehen.
»Du bist wunderschön«, sagte er unvermittelt und holte sie auf diese Weise aus den Gedanken, die ihr schon wieder erzählen wollten, dass es nicht gut war, einen erst Achtzehnjährigen zu lieben. Er wickelte eine Strähne ihres braunen Haares um seine Finger. »Und so reif, nicht wie die Weiber in meinem Alter.«
Sie grinste. »Ich benehme mich aber wie eine unreife Teenagerin, indem ich eine heimliche Beziehung mit einem fünf Jahre Jüngeren eingehe.«
Er fuhr mit dem Zeigefinger über ihre Brust, hinunter zu ihrem Bauchnabel und streichelte dann ihr Gesäß. »Du machst dir zu viele Gedanken. Wahre Liebe kennt kein Alter. Ich laufe dir seit zwei Jahren nach und nun gebe ich dich nicht mehr her.«
»Du hattest genug andere Frauen, mit denen du dich in der Zeit ablenken konntest.« Lisa schmunzelte. Sie war deshalb nicht eifersüchtig, denn sie war es gewesen, die ihn immer wieder abgewiesen hatte, weil er noch minderjährig gewesen war. Deshalb war sie froh gewesen, als sein Interesse nicht mehr ihr gegolten hatte.
»Die anderen Mädels haben mich doch bloß genommen, weil meine Adoptiveltern stinkreich sind. Geliebt habe ich immer nur dich. Ab sofort genießen wir unsere Beziehung.«
Lisa seufzte. »Die muss wirklich unter uns bleiben. Du weißt, dass meine Familie im Dorf nicht gut dasteht, meinen Eltern sei Dank. Ich möchte nicht, dass getratscht wird, und auch nicht der Eifersucht deiner Groupies ausgesetzt sein.«
»Groupies? Du spinnst.«
»Gefühlt jedes Mädel in diesem Dorf steht auf dich.«
»Na und? Ich bin volljährig und kann lieben, wen ich will. Mich interessiert das Getratsche der Leute nicht. Und so schlimm sind fünf Jahre Unterschied nun auch nicht.«
»Bitte, Nick. Lass es uns noch ein bisschen für uns behalten.«
»Glaubst du, dein Bruder kann das Geheimnis auch für sich bewahren?«
Lisa spürte, wie Hitze in ihr aufwallte, als sie an die peinliche Situation vom letzten Wochenende zurückdachte.
Ohne anzuklopfen war Ben in ihr Zimmer gestürmt und hatte die beiden beim Sex erwischt. Er hatte Lisa aber geschworen, niemandem etwas zu verraten.
»Nun mach dir nicht so einen Kopf. Selbst wenn er es weitererzählt, wäre es mir egal. Wir sind alt genug und können selbst entscheiden, auf wen wir uns einlassen.«
»Er wird es nicht weitertratschen. Und nun sollten wir aufhören und uns anziehen, denn er kommt jeden Moment nach Hause.«
Nick verdrehte die Augen. »Ben hier, Ben da. Ich möchte einfach mal etwas länger Zeit mit dir verbringen. Ungestört. Er ist dreizehn. Hat er keine Freunde?«
»Er hat es nicht leicht. Ich liebe meinen Bruder und er geht nun mal vor, das wusstest du von Anfang an.«
»Da spricht ja nichts dagegen, aber bitte nimm dir doch auch mal Zeit für mich. Ich möchte mit dir schlafen. Seit er uns erwischt hat, haben wir nicht mehr …«
Die Tür wurde aufgerissen. »Lisa, ich bin da.« Ben kam grinsend ins Zimmer. »Oh, ihr macht es mal wieder.«
»Ben, verdammt.« Lisa sprang auf und wickelte sich eine Decke um den Körper. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst anklopfen?«
»Musst du ständig mit dem da rummachen? Bist du sicher, dass du ihn behalten willst? Im Dorf sagen alle, dass er jede flachlegt. Und die Mädchen stehen nur auf ihn, weil seine Adoptiveltern Kohle haben.«
»Hey, untersteh dich, du kleiner Bengel«, schrie Nick. Er schaute Lisa entrüstet an. »Willst du ihn nicht mal vor die Haustür schicken? Ich denke, ein wenig frische Luft täte ihm gut.«
Lisa schüttelte den Kopf. Ihr war die Sache mehr als unangenehm. »Ben, bitte geh jetzt aus meinem Zimmer. Ich muss etwas mit Nick besprechen, dann können wir essen.«
»Nö, ich lass mich nicht rausschmeißen. Ist der jetzt wichtiger als ich?«
Lisa seufzte. »Das ist doch Unsinn, Ben. Ich bitte dich nur, kurz in deinem Zimmer auf mich zu warten.« Ihre Hände zitterten und sie sah ihren Bruder flehend an.
Nick hob seinen Oberkörper an und stützte seinen Kopf auf der Hand ab. Dabei rutschte die Decke etwas hinunter und legte den Blick auf seine nackte Brust frei.
»Bist du jetzt ein Flittchen, wie das alle Mädchen im Dorf sagen?«
Lisa riss die Augen auf. Sie zeigte zur Tür hinaus. »Verschwinde jetzt sofort. Du setzt dich in den Garten und schnappst frische Luft, bis du wieder klar denken kannst.« Lisa hätte sich ohrfeigen können, dass sie Nicks Vorschlag tatsächlich so geäußert hatte. Aber Ben hatte den Bogen überspannt.
»Bist du verrückt? Es ist schon dunkel. Und außerdem ist es bitterkalt da draußen. Das sage ich Papa.«
»Mach nur. Als wenn das den alten Säufer interessieren würde. Und jetzt gehst du in den Garten und wartest, bis ich dich wieder reinhole.« Ihr taten die harten Worte leid, doch sie wollte auch nicht zurückrudern. Es war Zeit, dass Ben lernte, dass sie ihr Privatleben hatte und nicht alles mit ihm teilte.
»Du bist doof, ich lass mich nicht rauswerfen. Da geh ich lieber freiwillig.« Ben drehte sich beleidigt um und stampfte die Treppe hinunter.
Lisa wartete, bis sie die Tür ins Schloss fallen hörte. Sie senkte die Schultern, holte einmal tief Luft und ließ die Decke lockerer, die sie die ganze Zeit fest um sich gebunden hatte. Es dauerte nicht lange, da meldete sich ihr schlechtes Gewissen. Trotzdem würde sie ihn zehn Minuten schmoren lassen.
Als sie sich umdrehte, packte Nick schnell sein Handy weg.
»Das war echt unangenehm«, sagte sie.
»Ach was. Du hast doch gar nichts Schlimmes gesagt.«
Lisa schaute auf das Handy. »Telefonier ruhig. Ich zieh mich derweil an.«
»Nein, alles gut. Es war ein Freund von mir, der fragt, ob ich mit nach Mayen fahre.« Nick grinste. »Aber ich habe ja Besseres vor. Komm wieder zu mir.«
Lisa setzte sich an den Bettrand. »Ich habe Ben nicht rausgeschmissen, um mich jetzt mit dir zu vergnügen.«
Nicks Handy piepste und er schaute darauf. Dann hob er wieder seinen Blick. »So lernt er wenigstens mal, dass er nicht so frech sein sollte.«
Lisa sah auf die Uhr. Es fiel ihr schwer, die zehn Minuten abzuwarten. »Du kannst gern zu deinem Kumpel gehen. Ich werde Ben jetzt wieder reinholen.«
Nick stand auf, tippte etwas auf seinem Handy und schaute dann Lisa an. »Du lässt dir von ihm auf der Nase rumtanzen. Er ist dreizehn, kein kleines Kind mehr.«
»Wir haben nur uns und müssen zusammenhalten. Aber das verstehst du nicht, du hast ja keine Geschwister.«
Nick stöhnte. »Du musst mir nicht erzählen, was eine schreckliche Kindheit ist. Ich habe keine Ahnung, wo ich herkomme und wer meine leiblichen Eltern sind. Und meine Adoptiveltern kümmern sich nur um ihr Geld. Ich bin lediglich ein Statussymbol für die.«
»Immerhin ermöglichen sie dir eine Zukunft. Du hast so viele Chancen.«
»Die werde ich auch nutzen. Aber ich bin kein geldgeiler Typ, der sich zurücklehnt, sondern möchte geliebt werden. Für andere da sein.« Er nahm Lisas Hand. »Ich liebe dich wirklich.«
Lisa befreite sich aus seinem Griff. »Geh jetzt bitte. Ich muss mich um Ben kümmern.«
Nick winkte ab, zog sich seine Jeans und sein T-Shirt über und lief zur Tür.
Lisa folgte ihm, um Ben ins Haus zu holen. Sie öffnete die Haustür und ging in den Hof. Der kalte Schnee umschlang ihre Knöchel. Ein leichter Wind trieb ihr Tränen in die Augen. Sie sah sich im Hof um.
Ihr Bruder war nicht da.
»Ben?«
Nick trat hinter sie. »Siehst du, er vergnügt sich irgendwo. Es ist unnötig, dass wir seinetwegen streiten.«
Lisa rannte in den Garten und schaute, ob Ben sich im Wintergarten versteckte. Doch auch da fand sie ihn nicht. Ihr Herz pochte wild. »Ben, jetzt komm her!«
Stille.
»Verdammt, wo ist er?« Im Schnee sah sie seine Fußspuren, die zur Straße führten. Lisa folgte ihnen. Am Bordstein endeten sie abrupt.
Daneben waren Abdrücke eines größeren Schuhs, die sich auch auf der Fahrbahn verteilten.
Sie zeigte darauf. »Siehst du das?« Erst dann nahm sie wahr, dass die größeren Fußabdrücke auch in den Hof führten.
Zu der Schaukel.
»Vermutlich ist er in ein Auto gestiegen«, antwortete Nick. »Ruf ihn doch mal an.«
»Das würde er niemals tun.« Trotzdem zog Lisa ihr Handy aus der Gesäßtasche. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihr breit. Sie wählte seine Nummer.
Vor der Haustür des Seiteneingangs ertönte ein Klingeln, das Lisa sofort in Panik versetzte.
Es war Bens Klingelton.
Hastig lief Lisa zum Eingang.
Das Handy lag auf dem Fußabtritt.
Sie hob es auf, drückte ihren Anruf weg und schaute darauf.
Das Nachrichtenprogramm war geöffnet.
Eine SMS, die an Lisa gerichtet war, jedoch nicht abgeschickt wurde, ließ ihr einen Schauer über den Rücken laufen.
Du hättest ihn nicht allein lassen dürfen.
Sie spürte die Eiseskälte des Schnees, die über ihre nackten Füße in den Körper kroch, doch der Schmerz in ihrer Brust war noch größer. »Ben!«, schrie sie voller Verzweiflung.
Kapitel 3
08. November 2020
»Lisa?«
Sie hielt an. Die tiefe Stimme drang in ihr Inneres und ihr Herz fing Feuer.
Langsam drehte sie sich um und musterte den adretten jungen Mann, dessen Haare wie geleckt am Kopf anlagen. Die braunen Augen lächelten sie an. »Hast du es wieder eilig?«
Lisa schmunzelte. »Spionierst du mir etwa nach? Du triffst in letzter Zeit ziemlich oft per Zufall auf mich.«
Nick hob die Schultern. »Schicksal.« Sein freches Grinsen zeigte das Grübchen an der rechten Wange, das Lisa schon früher gern betrachtet hatte.
Sie verspürte einen Druck im Magen und schluckte die aufwallende Galle hinunter. Bloß nicht kotzen. Lisa hasste es, dass sie sich oft übergeben musste, wenn sie nervös wurde. Sie lächelte, was wahrscheinlich aussah, als himmelte sie ihn an. Dabei wusste sie nur nicht, was sie sagen sollte. So, wie die unzähligen Male zuvor, die sie sich über den Weg gelaufen waren.
»Heute hast du doch bestimmt ein bisschen Zeit, um mit mir einen Kaffee zu trinken, oder?«
Lisa sah Nick in die Augen und die schmerzhaften Erinnerungen an den Tag, der vor fast drei Jahren ihr Leben verändert hatte, kamen schlagartig zurück. Aus diesem Grund wollte sie die Einladung am liebsten ausschlagen.
»Sag nicht schon wieder nein.«
Lisa machte ein entschuldigendes Gesicht. »Eigentlich müsste ich dringend arbeiten.«
»Bitte«, flehte Nick und faltete seine Hände.
Sie schmunzelte und in ihrem Magen flatterten Schmetterlinge.
Er hatte noch immer die lockere und charmante Art, mit der er sie schon vor Jahren angezogen hatte.
»In Ordnung.«
Nick nahm eine Gewinnerpose ein. »Yeah.«
»Aber höchstens eine Stunde. Ich habe viel zu tun.« Das war gelogen. Seit fast drei Jahren vegetierte sie nur noch vor sich hin und ging bloß vor die Tür, wenn es unbedingt nötig war. Ihr Geld verdiente sie nach ihrem Studium von zu Hause aus als Ghostwriterin, wobei sie da sehr schludrig war. Sie hätte also genügend Zeit, den Tag mit Nick zu verbringen, doch die Angst vor den Erinnerungen hielt sie ab.
»Und wenn es nur dreißig Minuten sind, Hauptsache, du kommst mit.« Das unverschämte Grinsen ließ Lisa dahinschmelzen.
Eigentlich war sie über die Ablenkung sogar ganz froh.
Sie liefen die Ladenzeile in der Mayener Innenstadt Richtung Marktplatz entlang. Eine Weile schwiegen sie.
»Warum hast du mich denn die letzten Male immer abgewimmelt? Was spricht dagegen, zusammen einen Kaffee zu trinken?«
Weil du mich an die schlimme Tragödie erinnerst, wollte sie schreien, räusperte sich aber stattdessen. »Es fällt mir nicht so leicht. Du weißt schon.« Lisa zitterte bei den Gedanken an diesen einen Tag.
»Kein Wunder.« Er senkte den Kopf, sein Gesicht färbte sich rot. »An mir hängen keine guten Erinnerungen. Ich wünschte, du könntest es überwinden, mich damit zu verbinden.«
Lisa kämpfte mit den Tränen. »Es ist für mich nicht einfach. Ich fühle mich so schuldig.«
»Hat man … Ich meine … hat die Polizei …«
Lisa schüttelte den Kopf und nun konnte sie die Tränen nicht mehr aufhalten. »Man hat keine neuen Hinweise gefunden. Sie gehen nicht davon aus, dass er noch lebt. Bens Verschwinden gehört jetzt zu den tausend anderen Cold-Case-Fällen.«
»Das tut mir schrecklich leid.«
Tat es ihm das wirklich oder sagte er es nur aus Höflichkeit?
Lisa versuchte sich von diesen Gedanken abzulenken, indem sie Nick verstohlen musterte.
Er sah gut aus, trug einen feinen Anzug. Es schien, als hätte er sein Leben weitergelebt, während sie sich jeden Tag wünschte, nicht mehr aufzuwachen, weil die Schuld sie auffraß. Nur der kleine Funken Hoffnung, Ben doch wiederzufinden, hielt sie davon ab, sich von der nächsten Brücke zu stürzen.
»Wir waren damals ganz schön egoistisch. Hätten wir ihn nicht aus dem Haus geworfen, dann wäre das alles nicht passiert«, sagte Nick.
Lisa wischte sich die Tränen aus den Augen, streckte ihren Rücken durch. »Es war dumm, aber wir können es nicht rückgängig machen. Ich werde ihn niemals aufgeben und hoffe so lange, bis er gefunden wird.«
Nick blieb stehen. »Ich wünschte für dich, er würde zurückkommen. Doch du kannst nicht ewig in diesem Zustand bleiben.«
»Zustand?«, empörte sich Lisa. »Soll ich so tun, als wäre nie etwas gewesen? Das kannst du nicht ernst meinen. Wir haben Ben in der Dunkelheit ausgesperrt und nur Gott weiß, was ihm zugestoßen ist.«
Nick starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. »Ich … Nun … Ich wollte damit nur sagen, dass du trotzdem weiterleben musst.«
»Entschuldige.« Lisa spürte Schamesröte in ihre Wangen steigen. »Es war nicht fair, dich so anzufahren. Es ist nur, dass ich diesen Abend mit dir bereue. Also … nicht so … I-ich meine, ich hätte Ben nicht vor die Tür schicken dürfen.«
»Du musst dich dafür nicht entschuldigen«, sagte Nick. »Ich weiß, dass dich das alles sehr mitnimmt.«
Lisas Magen krampfte. Ihre Hand zitterte und sie konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten.
Nick nahm sie in den Arm. »Es tut mir wirklich leid. Ich habe oft an euch gedacht und mir so sehr gewünscht, dass Ben wieder auftaucht. Jeden Tag habe ich die Nachrichten verfolgt. Ich wäre so gern für dich da gewesen.«
Lisa hatte Nick nach Bens Verschwinden von sich gestoßen. »Schon gut, wir können es nicht mehr ändern. Und es ist nur die gerechte Strafe, dass ich leide.«
»Sei nicht so hart mit dir selbst.«
Lisa befreite sich aus Nicks Umarmung und beäugte ihn von oben bis unten. »Diese Erinnerungen waren schuld daran, dass ich die letzten Jahre nie länger als zwei Minuten mit dir reden wollte. Also wechseln wir nun lieber das Thema. Wie geht es dir?«
Er lächelte »Bestens, und jetzt lass uns endlich einen Kaffee trinken. Ich friere.«
Sie entschieden sich, einen Coffee to go zu holen, und setzten sich am Mayener Marktplatz auf eine Bank am Brunnen, obwohl es viel zu kalt war. Doch Lisa brauchte die frische Luft, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
Kinder sprangen fröhlich jauchzend um den Brunnen und erfüllten den Markt mit Leben.
Lisa schmunzelte. Das Bild erinnerte sie daran, wie sie im Sommer immer mit Ben in den Brunnen gestiegen war, als er noch ein kleines Kind gewesen war.
»Und es gab überhaupt keine Hinweise?«, fragte Nick.
Lisa wollte das Thema ruhen lassen, aber sah ein, dass das nicht funktionieren würde. Vielleicht hilft es mir sogar, mit jemandem darüber zu sprechen. Also antwortete sie: »Nichts, was von Nutzen war. Niemand hat ihn gesehen, als hätte er sich einfach in Luft aufgelöst. Die Polizei hat sogar mehrmals gefragt, ob er freiwillig abgehauen sein könnte, weil ich ihn aus dem Haus geworfen habe. Und möglicherweise ist es dann zu einem schrecklichen Unfall gekommen.«
Nick schwieg. Nervös nestelte er an seinen Händen und sein Gesicht färbte sich erneut rot.
»Ben wäre niemals weggelaufen. Ich war alles für ihn.« Sofort meldete sich wieder die Übelkeit. »Und außerdem waren da die Spuren im Schnee. Jemand hat ihn im Auto mitgenommen.«
»Das hat die Polizei doch sicher genau untersucht.« Nick legte einen Arm um ihre Schultern. Ein vertrauter Duft umgab sie. Schon damals hatte er dieses herb-holzig riechende Parfüm benutzt.
»Zumindest haben sie das gesagt. Aber egal, was auch geschehen ist, hätte ich ihn nicht rausgeworfen, wäre er heute noch bei mir.«
»Du musst aufhören, dir die Schuld zu geben. Es war die Aufgabe deiner Eltern, sich um ihn zu kümmern.«
»Tja, du kennst ja unsere Verhältnisse. Ich hätte ihn niemals …« Sie vermochte es nicht, die Worte noch einmal auszusprechen.
»Schon gut. Sag mir, wenn ich etwas für dich tun kann.«
Lisa wand sich aus seiner Umarmung und schaute ihn an. »Ich komme zurecht. Es tut weh, aber irgendwann wird es sicher etwas besser. Wie geht es deinen Adoptiveltern?«
»Ich denke, es geht ihnen gut. Ich habe wenig Kontakt zu ihnen. Sie hatten sowieso nie viel Interesse an mir. Es dreht sich auch heute noch alles nur ums Geld, aber immerhin profitiere ich davon. Kurz nach Bens Verschwinden bin ich ausgezogen.« Nick kratzte sich nervös am Hals. Er hatte noch nie gern über seine Eltern gesprochen, deshalb bohrte Lisa nicht weiter.
Sie schaute auf seine rechte Hand und betrachtete den weißgoldenen Ring an seinem Finger.
Nick nahm ihn ab und verstaute ihn in der Manteltasche. »Das ist längst vorbei.«
Lisa hüstelte verlegen und spürte einen kleinen Stich in ihrer Magengegend. Vielleicht wäre sie seine Angetraute gewesen, wenn es nicht zu diesem tragischen Vorfall gekommen wäre. »Du hast mit zwanzig schon geheiratet? Das wolltest du doch nie.«
»Ich hätte es auch nicht tun sollen«, antwortete Nick. »Es hat ganze fünf Monate gehalten. Sie war nur auf Geld aus und ich dumm genug, darauf reinzufallen.« Nick senkte seinen Blick. »Ich wollte doch einfach nur geliebt werden.«
Lisa presste die Lippen zusammen. Es lag ihr auf der Zunge, ihm zu sagen, dass sie ihn geliebt hatte, empfand es aber unpassend. »Was machst du denn beruflich, dass du hier so schick herumläufst?«, fragte sie stattdessen.
»Ich studiere Architektur und arbeite nebenher in einem Architektenbüro, um Erfahrungen zu sammeln. Ich habe mein rebellisches Dasein gegen ein spießerisches Workaholic-Leben eingetauscht, deshalb trage ich nun die meiste Zeit Anzug und Hemd mit Schlips.« Er schaute auf ihre Jacke und Hose. »Du liebst Schwarz offenbar noch.«
Lisa senkte ihren Kopf.
»Wir haben immer wie Gruftis ausgesehen«, fuhr Nick fort.
»Dabei hatten wir von Gothic gar keine Ahnung.«
»Aber die Farbe hat damals nun mal unsere Hoffnungslosigkeit und Leere ausgedrückt.«
»Heute trage ich Schwarz noch aus einem anderen Grund.«
Nick seufzte. »Aus Trauer?«
Sie nickte. »Obwohl ich spüre, dass Ben noch lebt.«
»Ich würde es mir für dich wünschen. Weißt du was? Ich habe einen Freund bei der Polizei in Koblenz. Wenn du magst, hake ich mal nach, inwieweit der Fall ruht.«
Lisas Herz klopfte wild. »Das würdest du tun?«
»Ich kann dir aber nichts versprechen. Er darf mir eigentlich keine Auskunft geben und ich werde ihn nicht dazu zwingen. Er ist noch nicht lange dabei. Ich will nicht, dass er in Schwierigkeiten gerät.«
Lisa nickte. »Das verstehe ich.« Auch wenn sie sich nicht viel davon versprach, erhoffte sie sich zumindest zu erfahren, ob überhaupt noch nach Ben gesucht wurde.
Er lächelte sie an. »Jetzt muss ich erst einmal zurück ins Büro. Ich hoffe, wir sehen uns in Zukunft wieder öfter.«
Lisa nickte.
»Ich gehe unglaublich gern wandern. In der Gegend gibt es so viele tolle Wälder, es ist herrlich entspannend. Magst du mich vielleicht mal begleiten? Raus an die frische Luft, auf andere Gedanken kommen?«
Lisa schaute ihn mit großen Augen an. »Wandern? Du?«
Nick lachte. »Ich sagte doch, ich bin jetzt spießig. Es ist ein großartiger Ausgleich zum stressigen Alltag. Überleg es dir mal.«
»Danke. Ich weiß es sehr zu schätzen, dass du mir deine Unterstützung anbietest.« Sie schrieb ihre Nummer auf einen Zettel und gab ihn Nick. »Meine Adresse kennst du ja noch. Bis bald.«
Zum ersten Mal seit fast drei Jahren betrat sie ihr Elternhaus mit einem besseren Gefühl. Das Gespräch mit Nick hatte ihr gutgetan und sie ärgerte sich, dass sie ihn vorher immer abgewimmelt hatte.
Ungeduld bohrte sich an die Oberfläche. Lisa schüttelte den Kopf und nahm sich vor, seinem Angebot, einen Freund bei der Kripo anzurufen, nicht zu viel Bedeutung beizumessen.
Sie betrat den Flur, legte ihre Tasche auf der Kommode ab und betrachtete das Foto ihres Bruders. Woran es lag, wusste sie nicht, aber sie fühlte es an diesem Tag so stark wie nie zu vor: Ben lebte. »Ich werde dich finden«, flüsterte Lisa.
»Ist da wer?«, brüllte es aus dem Wohnzimmer.
»Ich bin es nur.« Lisa verdrehte die Augen. Sie wünschte sich, dass ihr Vater nie zurückgekommen wäre, nachdem ihre Mutter gestorben war. Seit er wieder da war, hatte sie kaum noch Ruhe vor seinen Anfeindungen und Forderungen.
»Wann gibt es was zu essen?«, fragte ihr Vater.
Sie atmete tief durch. »Im Kühlschrank steht genug«, rief sie dann so ruhig wie möglich.
Ihr Vater kam in den Flur geschlurft. »Kannst du dich nicht ordentlich um mich kümmern? Ich bin zu alt, um für mich zu sorgen.«
»Du meinst, du bist zu betrunken.« In Lisa kochte erneut die Wut hoch. »Du und Mama habt euch nie um uns Kinder geschert und nun erwartest du, dass ich dich versorge?«
»Ach, ihr Bälger seid doch bestens ohne uns zurechtgekommen.«
Lisa atmete dreimal tief ein und aus. Ganz ruhig, sagte sie sich ihr Mantra in Gedanken auf, das sie seit seiner Rückkehr ständig nutzte. Ihre Wut ebbte ein wenig ab. Sie zog sich die Schuhe aus und blickte noch einmal auf das Bild.
»Er wird nicht zurückkommen. Du solltest es langsam wegstellen.«
»Das lass mal meine Sorge sein.« Lisa schaute in das Gesicht ihres Vaters.
Sein Blick verfinsterte sich. »Du aufmüpfiges Biest. Das ist mein Haus. Ich möchte dieses Foto hier nicht mehr haben.«
Lisa trat näher an ihren Vater heran. »Um das ich mich gekümmert habe, während du weg warst und dir ein schönes Leben gemacht hast. Und ich hier allein um Ben getrauert habe. Ich dulde dich nur hier, weil du als Eigentümer eingetragen bist, aber sonst bist du mir scheißegal.«
Ihr Vater rotzte ihr ins Gesicht.
Wie ferngesteuert hob sie die Hand und scheuerte ihm eine.
Er wankte.
Lisa hielt die Luft an. Was um Himmels willen war in sie gefahren, ihren Vater zu schlagen? Es fehlte noch, dass er stürzte und sich schwer verletzte. Sie griff nach ihm und ließ ihn erst los, als er wieder sicher stand.
Lisas Vater rieb sich die Wange. »Das hast du nicht umsonst getan.«
»Es tut mir leid, das war falsch von mir.« Lisa ärgerte sich, dass sie sich so aus der Fassung hatte bringen lassen.
Er lief in die Küche. Lisa hörte, wie er sich eine Flasche Bier öffnete. Mit Sicherheit nicht seine erste an diesem Tag.
Soll er sich doch den letzten Rest Verstand wegsaufen. Lisa schüttelte den Kopf und ging.
Nachdem sie sich in ihr Zimmer zurückgezogen hatte, beruhigte sich langsam ihr Herz. Sie öffnete die Vorhänge und schaltete ihren Laptop an.
Am liebsten hätte sie sich verkrümelt und gar nichts getan, doch sie benötigte das Geld, um über die Runden zu kommen. Deshalb musste sie dringend an ein paar Bachelorarbeiten für ihre Kunden schreiben. Bereits ein Auftraggeber hatte seinen Unmut darüber geäußert, dass sie nicht pünktlich ablieferte.
Lisa seufzte. Sie hatte so große Pläne gehabt, als sie sich für das Studium eingeschrieben hatte. Sie hatte in der Umweltforschung tätig sein wollen, um Kommunen beratend zu unterstützen. Mit ihrem guten Durchschnitt hätte sie den Master noch machen können, doch das Schicksal hatte für sie anders entschieden. Nach Bens Verschwinden hatte sie zwar den Bachelor in der Tasche, doch war dann in ihrem Selbstmitleid ertrunken, statt den Master zu machen. Nun schrieb sie nur wissenschaftliche Arbeiten für Studenten, hatte aber trotzdem einige Kunden, da sie sich einen guten Namen hatte machen können.
Ihr Telefon klingelte.
Mit heftigem Herzklopfen schaute sie auf das Display, denn sie hoffte, dass Nick sich schon melden würde.
Doch es war einer der Studenten.
Lisa nahm das Telefonat nicht entgegen. Sie wusste, dass er nach dem Stand seiner Arbeit fragen würde, und dann müsste sie lügen, denn sie hatte mit seiner Bachelorarbeit noch nicht begonnen.
»Was treibst du eigentlich hier?«
Lisa schrak auf und drehte sich um. »Ich arbeite.«
»Pah, arbeiten? Du hockst den ganzen Tag daheim. Normale Menschen gehen aus dem Haus, um Geld zu verdienen.«
»Ich habe keine Lust, es dir schon wieder zu erklären.« Lisa stand auf, lief zu ihrem Vater und schob ihn aus dem Zimmer. »Das geht dich auch nichts an. Ich brauche jetzt Ruhe.« Sie schloss die Tür.
Ihr Vater hämmerte dagegen. »Ich habe Hunger.«
Lisa spürte erneut die Wut in sich aufwallen. Sie ignorierte den Krach, bis er schließlich aufgab.
Erneut klingelte ihr Handy.
Genervt schaute sie auf das Display.
Es war wieder der Kunde. Er würde offenbar nicht aufgeben, deshalb entschied Lisa, sich der Unannehmlichkeit zu stellen.
Sie nahm das Gespräch entgegen. Mit verdrehten Augen hörte sie sich den Groll an und schaffte es, den jungen Mann zu beruhigen, bevor sie auflegte.
Sie gab das Passwort in den Computer ein und Bens Bild tauchte auf ihrem Desktop auf. Ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, drifteten ihre Gedanken wieder in die Vergangenheit.
Sie hörte Schreie ihres Bruders. »Lisa, Hilfe. Lisa.«
Sie presste sich die Hände auf die Ohren.
Diese Rufe verfolgten sie seit Bens Verschwinden. Sie waren nie wirklich da gewesen, doch trotzdem kamen sie immer wieder. Es war, als wollten sie sie an ihre Schuld erinnern.
Lisa räusperte sich, um die Gedanken abzuschütteln.
Noch einmal schaute sie das Bild an, sah in die eisblauen Augen, die Ben zu etwas Besonderem machten. Egal, wo er aufgetaucht war, hatten die Menschen ihn angestarrt, fasziniert von der unüblichen Farbe.
Erneut meldete sich das schlechte Gewissen. »Es tut mir so furchtbar leid, Benny.« Das sagte sie seit fast drei Jahren oft, doch bisher hatte sie keine Chance bekommen, ihren Fehler wiedergutzumachen.
Das Klingeln an der Tür lenkte sie von den furchtbaren Gefühlen ab.
Sie schloss die Augen, versuchte, ruhig zu atmen.
»Lisa!«, brüllte ihr Vater von unten. »Für dich.«
Sie überlegte, wer das sein könnte. Außer den Postboten und ein paar religiösen Gemeinschaften, die einem ihren Glauben aufdrücken wollten, klingelte sonst niemand.
Schließlich siegte die Neugier. Sie rannte die Treppe hinunter und blickte in die Augen eines ihr unbekannten Mannes.
»Guten Tag, Frau Rab. Mein Name ist Kommissar Stein.«
Lisa schluckte. In ihr brannte es wie Feuer. Zitternd lehnte sie sich an die Wand, um nicht umzukippen.
Es konnte nur einen Grund geben, warum jemand von der Kriminalpolizei bei ihr auftauchte.
»Guten Tag«, presste sie mit aller Kraft heraus.
»Kann ich ins Haus kommen? Ich würde gern etwas mit Ihnen besprechen.«
Sofort schossen ihr die Tränen in die Augen.
Das bedeutete nichts Gutes.
Sie hatte sich das Szenario oft ausgemalt, sich mental darauf vorbereitet, dass die Kripo Bens Leiche gefunden hat. Manchmal hatte sie sogar gehofft, dass man sie endlich entdecken würde, damit diese Ungewissheit ein Ende nahm.
»Frau Rab?«
Lisa holte tief Luft und zeigte ins Haus. »Entschuldigen Sie bitte. Kommen Sie rein.«
Im Wohnzimmer blieben beide wie angewurzelt stehen.
Lisa regte sich kaum, zu stark war die Angst vor dem, was nun kommen würde.
»Können wir uns setzen?«, fragte der Kommissar.
Panik breitete sich in ihrem Körper aus. Sie atmete schneller, vor ihren Augen tanzten Sterne. Sie wollte es nicht hören.
»Frau Rab, geht es Ihnen gut?«
Lisa spürte, wie ihr Tränen die Wangen hinabliefen. Würde sie nun auch noch mit der Schuld leben müssen, dass sie ihn getötet hatte.
Doch sie konnte sich nicht vor der Wahrheit verstecken. Also nickte sie und zeigte auf das Sofa. »Bitte nehmen Sie Platz.«
Der Kommissar setzte sich.
»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte sie, um es noch weiter hinauszuzögern. Denn würde der Kommissar erst aussprechen, dass man Bens Leiche gefunden hatte, wäre das nie wieder rückgängig zu machen. Es gäbe keine Hoffnung mehr.
»Vielen Dank, das ist nicht nötig. Bitte, Frau Rab, setzen Sie sich.«
Zitternd ließ sich Lisa auf dem Sessel nieder. Sie schloss die Augen und wartete darauf, dass der Kommissar ihr den letzten Funken Hoffnung nahm.